Kritik der reinen Vernunft – Stadtbibliothek Stuttgart jetzt mit Schimmel

Pariser Platz mit Plastik

In Stuttgart wurde mit großem Pomp die neue Stadtbibliothek eingeweiht. Im großen und ganzen ist das ein bemerkenswertes Gebäude in dem gesichtslosen Konglomerat der Stuttgart schönen neuen Architekturwelt. Der Teufel steckt aber wie immer im Detail und ist ein weiteres schönes Beispiel dafür, wie großen Ideen in Beton gehuldigt wird und die Benutzer dabei etwas unter die Räder kommen. Stuttgart 21 läßt leise grüßen.

Will man sich zur neuen Stadtbibliothek begeben sollte man am Nordausgang des Hauptbahnhofs starten und zunächst einmal zur Einführung die Informationen zu S21 lesen, die dort zur Zeit noch am Bauzaun aufgehängt sind. Danach geht man durch die Karoline Kaulla Passage zur Stadtbibliothek am Mailänder Platz. Nun ist man sich offensichtlich nicht ganz einig was die K. Kaulla Passage eigentlich ist. An den Bahngleisen des noch existierenden Bahnhofs führt der Kaulla Weg entlang (auf dem Falk Stadtplan heißt das Kaulla Passage). Dieser Weg ist aber sehr öde und endet an einem Bauzaun. Man hält sich besser links und geht durch die imposanten Ruinen des LBBW Ausflugs in die große weite Finanzwelt hindurch. Hier wurden typische Bankentürme für tausende von Mitarbeitern errichtet, die die LBBW nun nicht mehr braucht. Offensichtlich ist der Weg durch die LBBW Bauten die Kaulla Passage. Da das aber kein öffentlicher Weg ist, kann ihn die Stadt wohl auch nicht ordentlich markieren. Hinweise auf die neue Stadtbibliothek findet man nicht. Die Wegbezeichnung ist mehr als symbolisch. Frau Karoline Kaulla (aus Hechingen) war die erste bedeutende Bankierin, die mit Spekulationen, Geldbeschaffung für  den prassenden Württemberger Herzog, die Habsburger u.a. sowie mit Finanzierung von Kriegen ein Riesenvermögen gemacht hat. Sie gründete auch die erste Bank (Vorläufer der Deutschen Bank und indirekt auch der LBBW) im Schwabenländle. Mit diesem geschichtlichen Hintergrund sieht man die verwaisten Bürotürme der LBBW, auf die unsere Ministerpräsidenten Teufel und Oettinger so stolz waren, mit anderen Augen.

Im Winter sollte man allerdings aufpassen. Die Kaulla Passage liegt im Schatten und die diversen schrägen Flächen auf unserem Weg sind im vereisten Zustand sicher eine schöne „Schleifete“. Tritt man aus den LBBW Schluchten heraus kommt man auf den Pariser Platz. Eine kleine vertiefte, gepflasterte Fläche, die von unschönen Betonbauten gesäumt wird. Achtung die Kante vom Gehweg zu den Treppen des Platzes (eigentlich ein Plätzle) ist wie heute üblich (siehe Kunstgebäude am Schlossplatz) nicht erkennbar und kann für Arm- und Beinbrüche sorgen. In der Distanz sieht man dann schon den Quader der Stadtbibliothek. Eingeweihte werden diesen anhand der Abbildungen in den Zeitungen sicher wiedererkennen. Besucher werden das Gebäude wohl wegen der arabischen Schrift an der Fassade für die Niederlassung einer arabischen Bank halten. Nähert man sich dem Gebäude ist man zunächst vom großzügigen Umfeld begeistert. Man hat doch tatsächlich am Gebäude einen etwa drei Meter breiten Rasenstreifen angelegt. Das ursprünglich geplante Wasserbecken a la Centre Pompidou ist der Stuttgarter Sparsamkeit zum Opfer gefallen (da hätte man ja öfter putzen müssen!). Diese Umfeldgestaltung ist echte Stuttgarter Großzügigkeit – man hätte das ganze ja auch betonieren können.

Die Tür zur Stadtbibliotek ist sehr schmal, man will ja den archtitektonischen Eindruck des geschlossenen Kubus (Philosophie) nicht zerstören. Ein Flügel der Glastür ist doch tatsächlich mit Willkommen (in Russisch) beschriftet. Dieser Flügel geht aber nicht auf, es öffnet sich aber der rechte Flügel automatisch. Befriedigend nimmt man zur Kenntnis, dass die Architekten an die älteren und behinderten Besucher gedacht haben. Aber nur bis zur nächsten Glastür – die muss man nämlich mit viel Kraft öffnen. Nun steht man in der Eingangsebene und betritt zunächst einmal den vielgepriesenen riesigen leeren Innenraum mit der Herzquelle (Quelle des Wissens oder Hurzquelle?)- das ist ein quadratischer 1 m² großes Wasserspiegel (5 cm hoch), der von weit oben vom Herzoberlicht (Oculus) schwach beleuchtet wird. In dem hohen riesigen Quaderraum, dem Herz der Bibliothek,  wird dann jedem bewußt, dass es mit dem Herzen hier nicht weit her ist. Bei meinem Besuch war die Herzquelle gerade versiegt. Außer einem verdreckten Becken, einem leicht verschmutzten, glatten Fußboden und einer Besuchergruppe, die sich in dem leeren Raum die Hälse verdrehte und der ein Führer gerade die Sache mit dem Herz erklärte, gab es nichts zu sehen.

Im Erdgeschoß kann man sich bei den sehr freundlichen Mitarbeitern schnell und unbürokratisch einen Bibliotheksausweis, das ist eine kontaktlose Chipkarte, ausstellen lassen. Will man anschließend aber die Gebühr bezahlen wird es schon schwieriger. Der Automat akzeptiert keine Kreditkarten. Mit der ec Karte sollte es aber klappen. Man sollte aber nicht erschrecken wenn beim Eingaben des PIN (ohne jeglichen Sichtschutz) der ganze Apparat wackelt. Die technische Ausrüstung der gesamten Selbsbedienungsgeräte (Tastaturen, Bildchirme usw) ist vom Billigsten und stellt einen seltsamen Kontrast  zu der aufwändigen Architektur dar.

Nun möchte man in die oberen Stockwerke zu den Büchern gehen. Angesichts der langen Schlange vor den beiden Aufzügen gehe ich zunächst mal in den ersten Stock zu Fuß. Die Bücher sind um den inneren Kern (das ist der leere Raum mit der Herzquelle!) angeordnet. Man muss also immer um den Kern herumlaufen, wenn man bestimmte Bücher sucht. An der Nordseite findet man zwei Plätze für die Recherche und ein Selbsbedienungsterminal für die Ausleihe. Davor sind zwei Minihocker in Würfelform (Sie wissen schon hier geht’s quadratisch zu!). Der Bildschirm hängt aber so hoch, dass sich alle Leute den Hals verrenken müssen, wenn sie was sehen wollen. Der Arbeitsplatz ist ergonomisch wohl für Giraffen optimiert worden. Die nächste Überraschung erwartet den Benutzer wenn er das Suchprogramm für die Recherche aufruft. Anstatt der Web Benutzerschnittstelle, die man auch von zu Hause recht komfortabel bedienen kann, sieht man plötzlich die interne Schnittstelle des Bibliothekssystems, das aus der Steinzeit der Datenverarbeitung in die Neuzeit herüber gerettet wurde. Nun sollte man einen Zettel dabei haben, damit man die Positionen der Bücher findet. Das ist gar nicht so einfach, da man ja immer um das Herz herumlaufen muss. Die Regalnummern findet man aber nicht wie üblich an den Regalen sondern auf dem Fussboden!

Nachdem ich meine Bücher gefunden habe, gehe ich zum Selbstbedienungsterminal für die Ausleihe. Das ist wirklich High Tech. Man legt die Bücher einfach im Stapel hin und wedelt mit seinem Ausweis an der Stelle mit dem Leser und schon werden die Bücher eingetragen und man kann sie mit nach Hause nehmen. Soweit die Theorie. Bei meinem ersten Versuch funktionierte mein Bibliotheksausweis nicht. Die freundliche Betreuerin beruhigte mich zunächst, dass das System öfter ausfalle. Man sollte einfach ein bischen warten. Nachdem die Ausleihe von einigen CDs bei einer Benutzerin fast reibungslos geklappt hat und mein Bibliotheksausweis noch immer nicht funktionierte, kam eine technische Expertin, die das Problem durch Ausgabe eines neuen Bibliotheksausweises löste. Nun funktionierte das Ausleihesystem. Ein Buch wurde allerdings nicht akzeptiert. Bücher mit dem Status Präsenz (haben auf dem Buchrücken unten einen roten Klebestreifen) kann man nicht ausleihen. Es galt nun einen Tisch zu suchen an dem man das Buch lesen konnte. Im Hintergrund fand sich auch ein Raum mit zwei Tischen. Dort saß ein Junge auf einem dieser niedrigen Würfel, Kinn an der Tischkante und versuchte einen der bibliothekseigenen CD Spieler ans Laufen zu bringen.  Sein Würfel war aber der einzige Sitzplatz. So stellte ich das Präsenzbuch wieder ins Regal und begab mich zum Aufzug um ins 8. Stockwerk hochzufahren, einen Kaffee zu trinken um dann das Gebäude von oben zu erkunden.

An den beiden Aufzügen standen keine Leute – also mal auf beide Knöpfe für die Fahrt nach oben gedrückt. Zu meiner Verblüffung fuhren die Aufzüge aber viermal am ersten Stock vobei ohne zu halten. Die waren nämlich im EG schon voll und hielten dann nicht mehr. Also Strategie ändern und zuerst nach unten ins UG fahren und von dort nach oben. Tatsächlich öffnete sich auch beim nächsten Aufzug (nach gefühlten 5 Minuten) die Tür und ich sah eine geräumige Aufzugkabine mit 8 Passagieren. Das war aber eine optische Täuschung. Die Aufzugkabinen sind sehr klein und werden deshalb durch Spiegel optisch vergrößert. Da passen maximal 6 Personen rein. Einige Besucher weigerten sich in den Aufzug zu gehen obwohl theoretisch noch eine Person Platz gehabt hätte. Nun ging es also nach unten und anschließend nach oben. Die Besucher, die im EG auf den Aufzug warteten, waren also ausgestochen – Erfolg! Die eklatante Fehlplanung mit der zu geringen Kapazität der Aufzüge bei einem vertikal orientierten Gebäude, läßt sich wohl nicht mehr reparieren ohne den Entwurf des Architekten zu verhunzen. Was haben sich die Juroren und die Gemeinderäte gedacht, als sie den Bau so genehmigt haben?

Im achten Stock angekommen kann man in das recht kleine Cafe (ohne Aussicht!) gehen, das von der Diakonie mit netten, behinderten Mitarbeitern betrieben wird. Die Mitarbeiter können einem nur leid tun. Die Betriebsfläche (Tresen usw) ist so klein (das kennt man ja von der Landesbibliothek), dass die Mitarbeiter nicht vernünftig arbeiten können. Für eine Spülmaschine ist offensichtlich kein Platz – Kaffee und Kuchen gibt es nur mit Pappbechern und -tellern.

Sucht man nach dem Kaffee die Toiletten auf, so wird man bei den Herren feststellen, dass die Pinkelbecken extrem hoch aufgehängt sind. Kinder und Kleinwüchsige haben da keine Chance. Es empfiehlt sich auch nicht die Toiletten aufzusuchen.  Auf Grund der schlechten Belüftung hängt dort mehr als ein „Gruß von Saiten, Spätzle und Linsen“. Beim Händewaschen wird man die Ästhetik der Geräte bewundern. allerdings funktionieren die Seifenspender nicht und die Abfallbehälter für die Papierhandtücher sind so elegant, dass sie immer verstopft sind und die Papierhandtücher dann irgendwie auf dem Boden landen.

So gestärkt kann man nun den gerühmten Innenraum (umgekehrte Pyramide) betreten. Dieser mehrstöckige Bibliotheksraum ist wirklich atemberaubend. So schön werden Bücher sonst nur in den alten Schloss- oder Klosterbibliotheken präsentiert. Allerdings sieht man keine lesenden Leute. Das ist auch kein Wunder. Es gibt außer ein paar Sitzwürfeln (siehe oben) keine Sitzgelegenheiten. Wahrscheinlich stören lesende Menschen den Architekten. Der Raum ist aber so schön, dass viele Besucher wohl freiwillig die Treppen über mehrere Stockwerke laufen – sie wissen ja dass sie am Aufzug ewig warten müssen.

Im EG angekommen sollten Sie das Gebäude nicht über die Glastür verlassen, an der Auf Wiedersehen steht. Die ist verschlossen, da hauen Sie sich nur den Kopf an.

Im großen und ganzen ist die neue Stadtbibliothek ein interessantes Gebäude, das aber wohl wenig genutzt werden wird und das ganz ähnlich wie S21 nicht um den Benutzern zu dienen geplant wurde. Sicher sollte man darüber nachdenken, wie man den Service für die Benutzer verbessern kann. Eine Stadtbibliothek gehört aber sicher in das Zentrum der Stadt, wo es Bürger aus allen Stadtteilen schnell erreichen können und wo sie vor oder nach dem Einkauf mal schnell vorbei gehen können. Die Strategie der Stadt Stuttgart, abgelegene, kommerziell genutzte Flächen durch öffentliche Gebäude aufzuwerten, ist sicher bei der Stadtbibliothek nicht aufgegangen und führt zu Fehlinvestitionen. Dabei ist die Stadtbibliothek sicher ein Vorgriff auf das Rosensteinviertel, das auf dem Bahnhofsgelände geplant wird. Die Stuttgarter sollten alle vor der Volksabstimmung vom Bahnhof über die LBBW Pyramiden, Pariser Platz und die Moskauer Straße (die heißt ja schon so!) promenieren, um sich ein Bild darüber zu machen, welche schöne neue Welt der Oberbürgermeister und seine Baufreunde für die Stuttgarter Bürger errichten wollen.

PS Stadtbibliothek Stuttgart Mai 2012 – Zustandsbericht. Die Stadtbibliothek zieht inzwischen mehr Besucher an. Darunter sind viele, die sich eigentlich nur das Gebäude anschauen wollen. Man findet aber auch Familien (auch mit Immigrationshintergrund), die mit Kindern das Angebot nutzen. So gesehen ist der aufwändige Bau durchaus sinnvoll. Nun zeigt sich, dass es viel zu wenig Recherche Terminals gibt. Trotz Yoga Position bei der Eingabe hangeln sich die Benutzer sehr lang durch das benutzerunfreundliche Programm für die Rechereche.

Den harten Kern der Benutzer stellen offensichtlich Rentner sowie Schüler und Studenten, die die Räume ähnlich wie in der Landesbibliothek als komfortable Gruppenräume und -treffpunkte nutzen. Nach wie vor zeigt das Gebäude den Gegensatz von aufwändiger Architektur (und Personal) und dem technischen Betrieb. Der mickrige Rasen, der die geplante Wasserfläche erstzen sollte, ist ungepflegt und im Winter ausgefroren. Die Türen funktionieren nach wie vor nicht richtig. Die technische Ausstattung stammt vom Billigheimer und ist zusammengewürfelt. Die Ausleihe funktioniert z.B. mit dem kontaktlosen Ausweis. Will man aber Gebühren zahlen, so liest der Apparat den Barcode (meistens nicht) und man kann keine Zahlung mit dem auf der Karte gespeicherten Betrag machen. Da muss man wieder passendes Kleingeld haben. Dafür ist der Belegdrucker so groß wie ein Tisch. Positiv ist, dass sich die Besucher wie selbstverständlich gegenseitig helfen. Die Probleme sorgen für einen sozialen Schulterschluss bei den Besuchern. Dafür liegt in den WCs das Klopapier herum, die Seife in den Designer-Spendern ist ausgegangen. Das ist nicht weiter schimm, kann man sich die Hände ja anschließend an Büchern und Zeitungen der Bibliothek abwischen. Offensichtlich laufen der Bibliotheksverwaltung die Betriebskosten aus dem Ruder und zuerst wird bei den niedrigen Einkommensklassen gespart. Dafür tun sich auf einigen Etagen schon Löcher für den dritten Aufzug auf. Der wird aber die Situation nicht entscheidend verbessern. Positiv ist, dass die meisten Besucher nach dem Drücken der Aufzugtaste aufgeben und die Treppen benutzen. Da geht dann auf jeder Etage bei überfülltem Aufzug die Aufzugtüre auf. Dann können die Bibliothekssardinen wenigstens frische Luft schnappen.

PS Stadtbibliothek Stuttgart Juli 2012 – Zustandsbericht.

Obwohl wir in Stuttgart dieses Jahr nur wenige Sommertage mit schwülwarmer Luft hatten, zeigt sich im Innern des Herz Raums bereits der nächste bauphysikalische Fehler. Da der große Kubus mit der „Herzquelle“ in der Mitte relativ kühl ist, schlägt sich die feuchtwarme Luft an den Wänden nieder und versorgt wunderschöne schwarze Schimmelfilme mit dem notwendigen Wasser.  Ein ideales Studienobjekt für Stuttgarter, die gerade ihr Haus energetisch sanieren und Schimmel im Haus vermeiden wollen.

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